Themenschwerpunkt 2014 - 2015: Dionysos 1-3
In seinem berühmt-berüchtigten ersten Werk, der „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ verwendet Nietzsche zum ersten Mal die zwei Kategorien des Apollinischen und des Dionysischen. Er spricht hier nicht von Apollon und von Dionysos, dem Altphilologen geht es nicht um zwei antike Göttergestalten im Sinne altphilologischer oder archäologischer Tradierung. Es geht ihm vielmehr – und hier bereits ganz klar und deutlich – um diese als zwei Projektionsgestalten menschlicher Selbst- und/als Weltverständigung.
Diese sind als solche keineswegs Nietzschesche neue Erfindungen: hier ist in aller Kürze zu verweisen auf den frühromantischen Friedrich Schlegel und seine „Rede über die Mythologie“; auf Georg Friedrich Creuzers „Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen“; auf das „Älteste Systemprogramm“ verfasst vom Tübinger Dreierbund Hegel, Hölderlin, Schelling; auf Friedrich Hölderlins Werk (namentlich das Gedicht „Brot und Wein“); auf Friedrich Wilhelm Schellings „Philosophie der Mythologie“…
Die zwei Projektionsgestalten des „Apollinischen“ und des „Dionysischen“ werden dabei von Nietzsche auch mitnichten als Gegensätze gefasst. Die differierenden Handlungsmomente – als „apollinisch“ und „dionysisch“ in der „Geburt der Tragödie“ erstmals von ihm eingeführt – sind keineswegs als einander ausschließende gegensätzliche Tendenzen begriffen. Im Zusammenspiel vielmehr, als wechselseitig unverzichtbare Bedingung gelingender schöpferischer Prozesse „reizten“ sie einander, sich „gegenseitig steigernd“ „zu immer neuen kräftigeren Geburten“ : Sie versuchten sich in „Versöhnung“ wie in Alternierung und in wechselseitiger – agonaler – Überhöhung. Für das antike Griechentum betont Nietzsche die stets gegenwärtige Einsicht in die „gegenseitige Nothwendigkeit“ beider Momente in kreativem Wechselverhältnis für eine gelingende schöpferische Selbsttätigkeit, ja: „Diese Versöhnung ist der wichtigste Moment in der Geschichte des griechischen Cultus“ – so Nietzsche selbst in der „Geburt der Tragödie“.
Hierin entspricht Nietzsche durchaus dem Selbstverständnis des antiken Delphischen Kultus:
- der Tempel in Delphi war (nach Pausanias) beiden Göttern geweiht:
- zwei Tympana schmückten den Tempel wie die zwei Seiten einer Medaille;
- das eine Tympanon mit der Darstellung von Apoll im Kreis der Musen;
- das andere Tympanon mit der Darstellung des Dionysos im Kreis der Bakchen.
Nach Plutarch teilten sie sich auch die Nutzung des Tempels: die Sommermonate gehörten Apollon, die Wintermonate aber dem Dionysos.
Nietzsche thematisiert bereits in der „Geburt der Tragödie“ und dann verschärft im Fortlauf seines Werkes den Bruch dieser brüderlichen Versöhntheit; er spürt den Folgen des Dissenses, der Entgegensetzung, der Verdrängung, der Verleugnung nach: es ist dies für ihn der „Sündenfall“ wenn man pathetisch so will, der grundlegende Irrtum, der ent-scheidende Schritt des und in den Nihilismus. Hierin findet sich dann wieder die Kritik an den Gebundenheiten der Art erstarrter moralischer Lebens- und Selbstverhältnisse und also Lebensstrategien im Gegenzug zum Entwurf des „Freien Geistes“; und das heißt hier: die Kritik an der Gebundenheit in die Hybris Apollinischer Vorstellungen hin zu neuerlicher Repristination Dionysischer Ent-Bindung.
Hieraus entsteht wie es aussieht in Rezeption und Forschung immer wieder und nach wie vor die Täuschung, Nietzsche habe sich seit der „Geburt der Tragödie“ eigentlich nur noch für das Dionysische interessiert. Doch bleibt es für Nietzsche durchgehend die dezidierte Frage nach und die Betonung des Wechselspiels der zwei Momente als der notwendigen Voraussetzung und Matrix aller Kreativität und letztlich alles Lebendigen als offenen kreativen Transfigurationsprozess.
Mit Nietzsche und nach Nietzsche fokussieren sich die Fragen nach (der) Gottesgestalt(en) als Projektionsgestalt(en) existentieller Relationalität, von Bedürfnisartikulationen und –vergegenwärtigungen, als Projektionsgestalt(en) kreatürlicher Immanenz persönlichen wie kollektiven Interpretationsgeschehens, von Perspektivierung, schöpferischer Transfiguration. Die Fragen nach Ursprung, Funktion und Interesse von Performativität und Projektion im weitesten Sinne stehen im Horizont der Sinnfrage. Im Kontext nihilistischer Moderne und Postmoderne kondensieren diese Fragen zu Reflexionen auf grundlegende Prozesse der Sinnproduktion und Lebensstiftung.
Es waren von Anbeginn die Künstler, die diese, für sie schon immer klare Fokussierung Nietzsches sofort aufgriffen: die Rezeption und Wirksamkeit von Nietzsches Philosophieren setzt nicht umsonst und keineswegs zufällig auch so umgehend wie intensiv und umfassend bei den Künstlern und in den Künsten vor und um 1900 ein.
Der Vortragszyklus „Dionysos“ wird in 3 Abteilungen versuchen, in diese Entwicklungen und Wechselwirkungen ein wenig Licht zu leuchten – es werden nur Schlaglichter, Spotlights bleiben können. Unter den Überschriften „Dionysos 1-3“ wird er insgesamt 7+1 Vorträge umfassen.
Dionysos 1
Friedrich Nietzsche – die Dionysos Dithyramben.
Zu Zeiten der griechischen Antike wurden nach Plutarch im Delphischen Tempel zu Ehren des Dionysos die männlichen Gesänge und Chöre dargebracht, genannt „Dithyramben“. Desgleichen eröffneten die Athenischen „Dionysien“ zunächst am Tage der Eröffnungsfeierlichkeiten die männlichen Chöre der Dionysischen Dithyramben die Festspiele.
So rekurriert der heute vielleicht merkwürdig erscheinende Name dieses Gedichtzyklus von Friedrich Nietzsche auf diese antike Tradition. Zugleich sind – und waren – diese Gedichte auch als Gesänge zu verstehen. Gesänge männlicher Chöre wohlgemerkt, was dem Allgemeinplatz eines Dionysos als Gott des Rausches der „wahnsinnigen rasenden Weiber“ (ein Zitat aus neuester Publikation, das hier nicht weiter auszuweisen ist) wohl schon im Ansatz widerspricht.
Zum Auftakt wird sich der Zyklus im Herbst 2014 den berühmten „Dionysos Dithyramben“ Friedrich Nietzsches zuwenden. Alfred Gulden wird in einer Lesung die Gedichte zu Gehör bringen im Rahmen seines Projektes „Nietzsche eine Stimme geben“; Wolfram Groddeck wird als der bedeutendste Interpret dieser Gedichte die Frage stellen nach „der Wahrheit des Dionysischen“.
Dionysos 2
Die Geburt der Tragödie: Kult, Theater, Polis
Unter dem Titel „Dionysos 2“ werden sich zwei Vorträge dem Phänomen „Dionysos“ in der Athenischen Antike zuwenden. Es wird versucht werden, im Blick auf die verfügbaren historischen Quellen und auf neueste Forschungen das weite Feld der sogenannten „W-Fragen“ zu eröffnen, zwischen dem Woher und dem Wozu dieser so bedeutsamen wie ungreifbaren Figuration. Susanne Gödde und Renate Schlesier werden über Dionysos als Mysteriengott und als Gott des Theaters, des Tanzes, der Musik, als Gott der Verwandlung und der Gemeinschaftsstiftung sprechen, und das heißt, über die Entstehungsgeschichte der Athenischen Poliskultur, um die besondere Vergegenwärtigungs- und Verständigungskultur als spezifischer kollektiver Poiesis von andererseits ubiquitären Phänomenen.
Dionysos 3
Die Tragödie in der Gegenwart
Mit seinem Erstling „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ eröffnete Friedrich Nietzsche eine neue, herausfordernde, provokante Fragestellung und Perspektive zu Interpretationen und Kontextualisierungen: vor allem, neu, zu persönlichen wie kollektiven Bedürfnissen und Funktionen der antiken Tragödienspiele, Komödien, Satyrspiele.
Namentlich die Figur des Euripides erlangte in diesen Fragestellungen für Nietzsche eine zentrale Bedeutung: einerseits als Dichter des – von ihm so benannten – „Sokratismus“ als Figuration durchaus anmaßenden Erkenntnisoptimismus‘; andererseits im selbstgewählten späten Makedonischen Exil als Dichter eines Werkes, das durchaus als späte Revision und Kritik dieser Hoffnungen als Hybris verstanden werden muss – oder kann. Die „Bakchen“ stellen die einzige Tragödie der Antike, in welcher Dionysos persönlich, als Protagonist, auftritt, und dieses in durchaus ambivalenter Gestalt.
Die Figur des Pentheus in den „Backchen“ und jene des Marsyas im antiken Mythos andererseits haben eines gemeinsam: in anmaßender Hybris verspotten und missachten sie die Götter Dionysos und Apoll, überheben sich in Größenwahn der eigenen Begrenztheit, Bedingtheit, Sterblichkeit. Üben die Götter Rache oder aber folgt dem Frevel die gebührende gerechte Strafe, um solcherart die kosmische Ordnung wieder herzustellen? Oder, moderner ausgedrückt: führen die Blindheit der Arroganz und die Arroganz der Blindheit notwendigerweise in die Katastrophe?
Beide Gestalten, Dionysos und Apollon, bewegen die Moderne – nicht nur, aber doch zunehmend – seit der Herausforderung durch Friedrich Nietzsche, nicht um ihrer selbst willen, sondern das, wofür sie stehen. Dieter Borchmeyer wird über die Bezugnahmen von Thomas Mann bis Hans Werner Henze sprechen, dabei auch über eine – meist übersehene – Bezugnahme des späten Goethe.
Mit Thomas Mann begegnet darüber hinaus einer der Gründer der ersten „Nietzsche-Gesellschaft e.V.“ hier in München im Jahre 1919, als deren Nachfolgegesellschaft sich die heutige Gesellschaft unter dem Namen „Nietzsche-Forum-München e.V.“ versteht.
Mit Hans Werner Henze und Wolfgang Rihm wenden wir uns jenem Medium zu, das Nietzsche nach eigener Aussage doch eigentlich das unentbehrlichste war, das wahrhaftigste, grundlegendste, und dies auch stets blieb, und also zu eigenen einzigartigen Sprachkompositionen führte, auch dort: Musik, denn „ohne Musik ist das Leben ein Irrtum“.
Die Vorführung der Opernphantasie „Dionysos“ von Wolfgang Rihm wird in einem Podiumsgespräch des Komponisten mit Rüdiger Görner vertieft und kontextualisiert werden können.
Iso Camartin spricht über Gustav Mahler als Komponisten, dessen Bezugnahme auf Dionysos und Nietzsche sehr ambivalente Züge trägt.
Hermann Nitsch wird schließlich als hoch umstrittener Künstler der Happening-Szene seit den 1960er Jahren aus dem komplexen Kontext der Diskurse in seinen Intentionen fassbarer werden können. Alfred Gulden berichtet als dessen Regisseur aus Erfahrungen des „6-Tage-Spiels“. Die Begegnung mit der Darstellung des Marsyas durch den berühmten Maler Tiziano Vecellio wird die Perspektiven und Fragestellungen dabei erweitern und vertiefen können.