Themenschwerpunkt 2011: Wissenschaft und Erkenntnis
Wissenschaft und Erkenntnis bei Nietzsche
Einführung von Dr. Beatrix Vogel
Die Konzeption des Themenschwerpunktes »Wissenschaft und Erkenntnis bei Nietzsche«, der zunächst auf fünf Vorträge im ersten Halbjahr 2011 angelegt ist, ergab sich im Kontext der Arbeit des Nietzsche-Forums München e. V. im Gemeinschaftsprojekt mit der turmdersinne gGmbH und der Virtuellen Schule e. V. : »SINNeszauber – WAHRnehmung und Philosophie« ( www.sinneszauber.org ). Im Beitrag des Nietzsche-Forums München zu diesem Projekt (das wiederum, wie schon das Projekt »meinNietzsche«, durch die Bayerische Sparkassenstiftung gefördert wird) geht es vor allem – mit Nietzsche – um eine schrittweise Vertiefung und Radikalisierung des Verständnisses der Wahrnehmung als Konstruktionsleistung des Wahrnehmenden sowie um die Frage nach dem Interpretationscharakter aller Wahrheitsvorstellungen.
Sinnesorgane und Sinneswahrnehmung sind nicht nur Gegenstände wissenschaftlicher Psychologie, Physiologie, Neurologie; sie sind, in unterschiedlichen Theorietypen je unterschiedlich akzentuiert, konstitutive Bestandteile von Wahrheits- und Erkenntnistheorien, wobei die Weise, wie Sinneserfahrung im Rahmen eines Erkenntnismodells eingebracht wird: als psychologische Verhaltens-weisen? als Seinszustände?, Auskunft gibt über die Art des Denkens, der Logik, über das jeweils praktizierte, als gültig unterstellte Modell des Wirklichkeitsbezugs. – Besonders bekannt ist die Rolle, die das Konstrukt der Sinnesdaten in der empiristischen Erkenntnistheorie spielt, verbunden mit den Implikationen der Äußerlichkeit und Beliebigkeit der Gegenstände in diesem Modell eines objektiven Wissens – einem Modell der Erkenntnisgewinnung, das so konzipiert ist, dass es die Raum-Zeit-Form der Erkenntnis im Modus des Vollzugs der logischen Implikationen des Ding-Schemas voraussetzt, also die logische Form des Denkens so bestimmt, dass das Verstehen und Begreifen auch dann noch dem Ding-Schema quasi unterworfen bleibt, wo die Wissenschaft es längst als unzureichend erkannt hat.
Nietzsche, der das alles schon 100 Jahre früher bedacht hat, zieht energisch und konsequent an dem Faden des Zusammenhangs der Struktur des Gegenstandsbezugs und der Struktur der Gegenstandserkenntnis; er hinterfragt radikal die Voraussetzungen des klassisch-traditionellen Erkenntnismodells (sei es in transzendental-philosophischer oder empiristischer Variante) und dessen formallogische Grundlagen – zumal die Geltung des Widerspruchsprinzips, samt der Axiome unserer Anschauung von Raum und Zeit –, welche unsere rationale Realitätswahrnehmung gemäß dem Ding-Schema, gemäß statischen Gegenständen also, präfigurieren, – auf der Suche nach einer neuen Form des Denkens, einer neuen Logos-Struktur, die einem dynamischen und flexiblen Charakter allen Geschehens, Denkens und Interpretierens gerecht würde.
1. Vortrag am 14.02.2011:
PD Dr. Miriam Ommeln (Universität Karlsruhe; KIT)
Dionysisch philosophieren: Nietzsches Erkenntnisansatz neu beleuchtet.
Wie viel Wahrheit verträgt die Wissenschaft? »Wozu, schlimmer noch woher – alle Wissenschaft?« Dafür entwickelte Nietzsche eine »Lehre, die er auf den Namen dionysische taufte«. Der späte Nietzsche beklagt in Die Geburt der Tragödie, »einem Buch vielleicht für Künstler«, dass er es mit fremden Formeln »verdunkelte« und »verdarb«, anstatt sich eine »eigene Sprache zu erlauben«. Deshalb werden in diesem Vortrag die Mächte des Dionysos und Apollon neu interpretiert. Dabei zeigt sich, dass es sich um die Rehabilitierung der Aletheia innerhalb der Wissensstruktur des Logos handelt. Ihre Sprengkraft erscheint unter anderen Schlagworten in den aktuellen (Natur-)Wissenschaften.
Vortrag zum kostenlosen Download: → Ommeln: Nietzsches Erkenntnisansatz neu beleuchtet
2. Vortrag am 28.03.2011:
Dr. Hans-Joachim Becker
Nietzsches Kritik wissenschaftlicher Vernunft
Schon der junge Nietzsche sah die Wissenschaft als problematisch und fragwürdig an. In der Geburt der Tragödie betrachtete er sie unter der Optik der Kunst, »denn das Problem der Wissenschaft kann nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden«. In seinen späteren Überlegungen ergänzte er diese Perspektive durch eine Kritik des Subjekt-begriffs. Das Subjekt ist ihm eine Fiktion, nach der man sich alle »Dinglichkeit« erfindet. Die Wissenschaft operiert »mit lauter Dingen, die es nicht giebt«, d.h. mit einer Fälschung von Wirklichkeit, die ihrem Wesen nach ein beständig fließender Strom ist, der durch die wissenschaftliche Begrifflichkeit willkürlich sistiert wird. So ist »Wissenschaft« für Nietzsche nur eine von unendlich vielen möglichen Ausdeutungen der Wirklichkeit.
Vortrag zum kostenlosen Download: → Becker: Nietzsches Kritik wissenschaftlicher Vernunft
3. Vortrag am 30.05.2011:
Dr. Helmut Heit (Univ. Hannover; TU Berlin)
Interpretation und die Ordnung der Dinge bei Nietzsche
Nietzsche dehnt den Begriff der Interpretation, den er als Kunst der Auslegung aus seiner philologischen Arbeit kennt, auf Felder jenseits der Deutung von Texten aus. Nicht zuletzt inspiriert durch die Sinnesphysiologie geht er der Frage nach, inwiefern die Welt, die uns etwas angeht, eine Interpretationsleistung ist. Einerseits haftet jeder Interpretation etwas verfälschendes an, andererseits hält Nietzsche daran fest, zwischen besseren und schlechteren Interpretationen zu unterscheiden. Wie kann diese Unterscheidung aufrecht erhalten werden, wenn sachgerechte Wahrheit als Kriterium ausscheidet? In welchem Sinne wir nicht mit Tatsachen zu tun haben, sondern mit Interpretationen und welche Konsequenzen sich daraus für die Frage nach der Wahrheit ergeben, ist das Thema des Vortrags von Helmut Heit.
Vortrag zum kostenlosen Download: → Heit: Interpretation bei Nietzsche
4. Vortrag am 30.05.2011:
Dr. Nikolaos Loukidelis (TU Berlin)
Interpretation und Vernunft des Leibes bei Nietzsche
Nietzsche gilt seit einiger Zeit als Vordenker der Interpretationsphilosophie. Nach dieser wichtigen philosophischen Richtung stellen unser Fühlen, Denken und Wollen Interpretationsprozesse dar. Mit Blick auf die Philosophie Nietzsches unterstreichen zwar alle einschlägigen Untersuchungen die Schlüsselrolle des Leibes für das Zustandekommen von Interpretationsprozessen. Dennoch thematisieren sie wenig oder überhaupt nicht den konkreten Zusammenhang von Leib und Interpretation. Wie funktioniert die Vernunft des Leibes, die das Interpretieren bestimmt? Dieser Frage, die eng mit Nietzsches spezifischen psychologischen und physiologischen Ansichten zusammenhängt und die zu Vergleichen mit der heutigen Psychologie und Physiologie einlädt, widmet sich der Vortrag von Nikolaos Loukidelis.
Einen zusammenhängenden Text gibt es zur Zeit noch nicht. Die Vorträge von Herrn Dr. Nikolaos Loukidelis und Herrn Dr. Helmut Heit sind für Mitglieder und Freunde des Nietzsche-Forums München als Audio-CD erhältlich.
5. Vortrag am 31.05.2011:
Prof. Dr. Babette E. Babich (Fordham University, NYC; Georgetown University, Washington DC)
Zu Nietzsches Zukunfts-Physiologie
Indem er die Physiologie als eine Wissenschaft im Licht von Kunst und Leben betrachtet, beziehen sich Nietzsches Reflexionen auf Diät und Klima auf spezifisch physiologische Konstitutionen und Leib-Typen – wie sie auf unterschiedliche kulturelle Aneignungs- oder Formierungsverhältnisse des Leibes Bezug nehmen, wobei Nietzsche den Schwerpunkt immer auf die Formierung oder das Werden als solches legt. In diesem Sinne besagt Ästhetik für Nietzsche »nichts als eine angewandte Physiologie«. Nietzsches Behauptung, dass die Physiologie einem großen Teil der Philosophie unterliegt, im Zusammenhang mit seiner Kritik des Kausalitäts-Prinzips ist das Thema des Vortrags von Babette Babich.
Vortrag zum kostenlosen Download: → Babich: Nietzsches Zukunfts-Physiologie